Ewgenija Kurakina, eine der führenden Leningrader Mannequins der sechziger Jahre, kommt nur noch selten nach Sankt Petersburg, meistens wenn sie auf der Durchreise aus Berlin ist. Während ihres letzten Besuchs ist es uns jedoch gelungen, sie zu treffen und mit ihr über die Besonderheiten der Modeindustrie jener Jahre zu sprechen. Damals war Ewgenija mit der Fashion-Welt nicht nur vom Hören-Sagen bekannt, sondern war das Gesicht Leningrads und vertrat unsere Mode im Ausland. Sie erlebte von Anfang an den Export unserer Mannequins auf die internationalen Catwalks mit, auf denen heute zahlreiche Gesichter osteuropäischer Models zu finden sind.
Russische Models sind auf den internationalen Catwalks sehr nachgefragt. War das nicht immer so?
Nein, ganz und gar nicht! Man kann wirklich nicht sagen, dass russische Mannequins im Ausland nachgefragt wurden, als ich gemodelt habe, und das waren die sechziger Jahre. Wir waren damals «hinter Gittern», hinter dem Eisernen Vorhang. Erst in den Siebzigern konnten wir auch nach Ausland reisen.
Ist es wahr, dass Sie «unter Aufsicht» gereist sind?
Ja, selbstverständlich! Jedes Mannequin hatte jemanden, der auf sie aufpasste. Es war unmöglich, sich frei im Ausland zu bewegen. Wir wurden alle unter Kontrolle. Das war natürlich unoffiziell, doch wussten alle, dass es so ist. Allein schon deshalb, weil es immer mehr Mitarbeiter als Mannequins waren, die nach Ausland reisten.
Erzählen Sie von Ihren Reisen. Konnten Sie Ihrer Beobachter loswerden?
Da haben sich schon recht amüsante Geschichten ereignet. In Leipzig wurden jedes Saison Modemessen veranstaltet. Auf dem Weg zu einer von diesen Messen ging der Verschluss meines Schuhs kaputt, und ich blieb stehen, um ihn zu richten. Sofort kam der Administrator zu mir gelaufen, um zu fragen, weshalb ich denn stehengeblieben sei. Ein anderes Mal sind wir in einem Hotelaufzug gemeinsam mit einem Engländer nach unten gefahren, der versuchte mit uns ins Gespräch zu kommen. Ich war gezwungen ihm zu sagen, dass wir sowjetische Mannequins sind und dass man mit uns sprechen nicht erlaubt sei.
War das die Einstellung ihrer Leitung? Hat sie die Kommunikation mit Ausländern unterbunden?
Ja. Ohne Begleitung eines Administrators dürften wir uns nicht einmal an eine Bar setzen. Alle unsere Bewegungen wurden «überwacht». Wir dürften uns nicht mit den Ausländern unterhalten.
Haben Sie bei diesen Auslandsreisen Leningrader Modekollektionen präsentiert?
Wie üblich wurde eine Kollektion eigens für uns kreiert, wobei für jedes Mannequin eine Art Charakter geschafft. Ich wurde als «trauriger Teenager» bezeichnet. Und ich schlüpfte sehr lange in dieser Teenager-Rolle. Ich erinnere mich noch, dass ich einmal in Deutschland in Gestalt des «Zarensohnes Ivans» auftrat.
Was war das Ziel dieser Auftritte? Eine Demonstration der Errungenschaften der Leningrader Mode –und Textilindustrie?
Ich denke, dass das Ziel darin bestand, den Leningrader Stil zu zeigen. Vielleicht sogar die sowjetische Mode zu präsentieren.
Erzählen Sie uns, wie sie – die sowjetische Mode war?
Äußerst populär war ein sportlich-eleganter Stil. Und in den siebziger Jahren haben wir derart kurze Röcke und derart hohe Plateauschuhe getragen, so hoch, dass es uns heute nichts mehr als gewagt erscheint. In Moskau wurde ich einmal von einem Milizionär angehalten, weil ich in ein rotes transparentes Batisthemd gehüllt war und keinen BH trug.
Musste man bestimmte Charakterzüge mitbringen, um ein «ausreisefähiges Mannequin» zu werden? Oder vielleicht ein Parteibuch besitzen?
Das hat es auch gegeben. Ich kann mich erinnern, als man uns auf einer Versammlung erklärte, dass nur diejenigen mitfahren dürfen, die Parteimitglieder seien. Und ich muss sagen, dass viele Mädchen sofort in die Partei eintraten.
Hatten Sie auch ein Parteibuch?
Nein, ich hatte keines. Ich bin auch nicht beim Komsomol gewesen. Reisen durfte ich allein aus dem Grunde, weil ich von den Modedesignern nachgefragt wurde und da viele Kollektionen gerade für mich geschaffen wurden. Im Hause der Mode auf dem Newskij Prospekt war einst eine recht amüsante Geschichte passiert. Während der Versammlung vor einer Reise stand eine meiner guten Freundin auf und sagte: «Ewgenija Kurakina darf nicht ausreisen, da sie weder im Komsomol noch verheiratet ist und dabei noch alleine lebt».
Ewgenija, wie wurde man zu jener Zeit überhaupt zu einem Model?
Normalerweise suchte man Models und fand sie auch. Ich wurde auch gefunden. Davor hatte ich noch nicht einmal von einem Hause der Mode gehört.
Erzählen Sie, wie man Sie gefunden hat?
Das war eine recht tragikomische Geschichte. Ich hatte gerade mein Abitur gemacht und meine Mutter wünschte sehr, dass ich mich bei einem technischen Institute einschreibe. Bei den Eignungsprüfungen bekam ich nur ein «Gut» in Physik und wurde deshalb nicht aufgenommen. Ich wusste nicht, wie ich das meiner Mutter beibringen sollte, da es für sie eine Tragödie bedeutete. So ging ich also den Newski Prospekt entlang nach Hause, in die Rubinstein Straße, und weinte. An der Kasaner Kathedrale wurde ich von einer Kindermodedesignerin des Hauses der Mode – Alewtina angehalten, die, mich zu trösten versuchte. Ich war gezwungen, tränenerstickt meine traurige Geschichte ihr zu erzählen. Sie antwortete mir: «Du gefällst mir sehr, komm zu uns und arbeite als Mannequin». Ich kam ganz verheult nach Hause zurück und erzählte meiner Mutter, dass ich nicht angenommen worden war. Sie wurde sehr traurig und versprach mir, dass ich sicherlich in ihrem Institut arbeiten könne. Daraufhin antwortete ich ihr, dass ich bereits einen Job gefunden habe. Und als ich das Wort «Mannequin» aussprach (ich hatte keine Ahnung, was das überhaupt bedeutete), wurde meiner Mutter schlecht.
Haben Sie wirklich nichts von diesem Beruf gewusst?
Gar nichts. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Vor- und Zurücklaufen auf dem Laufsteg eine richtige Arbeit ist. Damals war die Modewelt sehr verschlossen, und nur wenige hatten überhaupt eine Vorstellung davon. Aber mir hat diese Tätigkeit immer gefallen. Denn der Sinn unserer Arbeit darin bestand, die Kollektionen dank unseren effektvollen Präsentationen der Kollektionen vor der Kommission der Modeindustrie erfolgreich verkaufen zu können.
Verraten Sie uns Ihre Geheimnisse, wie Sie das geschafft haben?
Wir waren sehr artistisch veranlagt. Wir haben niemals den Eindruck vermittelt, dass ein Kleiderständer oder eine Mumie auf dem Laufsteg läuft, die auf niemanden achtet. Wir haben mit dem Saal kommuniziert, den Zuschauern zugelächelt. Wir bauten theatralische Momente ein. Ich kam zum Beispiel mit der Musik zum Film«Die Regenschirme von Cherbourg» mit einem Regenschirm auf den Laufsteg und hüpfte über Pfützen. Das war wie ein richtiges Theaterstück. Und wir lebten damit. Es ist sogar vorgekommen, dass Menschen auf den Modeschauen weinten, so sehr sie von uns gerührt waren.
Können Sie heute die Schönheitskriterien spezifizieren, nach denen damals die Mädchen für die Arbeit auf dem Laufsteg ausgewählt wurden?
Ich möchte nicht sagen, dass man nur nach Schönheit ausgewählt wurde. Man musste ein besonderer Typ sein. Die Mannequins von damals waren keine Kleiderständer, sondern Persönlichkeiten.
Waren 90*60*90 erforderlich?
Selbstverständlich gab es bestimmte Kriterien, obwohl gerade derartige Parameter nicht ausschlaggebend waren. Alle Mädchen waren schlank, aber sie hatten Formen. Das waren Frauen. Wir waren niemals auf Diät. Wörter wie «Diät» oder «abnehmen» fehlten gänzlich in unserem Wortschatz. Unsere Administratorin sagte, dass sie niemanden getroffen hätte, der gefräßiger als Mannequins wäre. Auf unsere Figuren hat sich das seltsamerweise jedoch nicht ausgewirkt. Vielleicht weil wir viel Energie bei den Ankleideproben verloren haben, während deren wir stundenlang stehen mussten. Damals wurden die Kollektionen direkt auf uns zugeschnitten, deshalb gestalteten sich die Proben zu einer echten Knochenarbeit. Wir arbeiteten bis auf die totale Erschöpfung, manchmal sogar bis auf Ohnmacht.
Sind Sie heute stolz darauf, als Mannequin gearbeitet zu haben?
Diese Arbeit hat mir viel gegeben. Für die Frauen bedeutet sie überhaupt sehr viel, da man dadurch sich zu kleiden, sich richtig zu «präsentieren», sich richtig zu verhalten, sich mit Stil und Geschmack vertraut zu machen lernt. Sie verleiht eine besondere Verhaltenskultur, die in der Gesellschaft von großer Bedeutung ist.
Gespräch geführt von Alexandra Karpova
Foto: Maria Bondareva
Sankt Petersburg – 19.07.2010